Zwangszähmung

Leider wird in verschiedenen Foren selbst von langjährigen Haltern immer wieder die Zwangszähmung empfohlen. Das heißt, das Tier wird gezwungen, zahm zu sein und alles mit sich geschehen zu lassen.

Die Zwangszähmer-Fraktion rechtfertigt ihr Handeln damit, dass Ratten, die immer Angst haben, enormem Stress ausgesetzt sind und einmaliger Stress durch Zwangszähmung sinnvoller ist, als das Tier den Rest seines Lebens zu stressen.

Es gibt verschiedene Methoden, Ratten dazu zu zwingen, zahm zu sein:

• Ratte unter den Pulli stopfen und dort mehrere Stunden belassen
• Ratte auf den Schoß setzen und dort so lange fest halten, bis sie aufhört, zu flüchten
• Ratte auf den Rücken drehen und den Bauch streicheln

Es gibt noch einige andere, abgewandelte Methoden.

Ich selbst halte von Zwangszähmung nichts. Und zwar deshalb, weil erzwungene Freundschaft für mich keinen Wert darstellt.

Wenn eine Ratte sich von mir anfassen lässt, weil sie mir vertraut und mich mag, dann ist das ein unvergleichlicher Vertrauensbeweis.

Lässt sich eine Ratte von mir anfassen, weil ich ihren Willen gebrochen habe, hat das nichts mit Vertrauen oder Freundschaft zu tun.

Wenn ich eine Ratte aus dem Käfig fange und festhalte, obwohl sie wie am Spieß schreit, hat sie Todesangst. Setze ich sie ab, wenn sie aufgehört hat, zu quieken und sich zu wehren, hat diese Ratte folgende Erfahrung gemacht und abgespeichert: "Der Mensch tut mir nichts, wenn ich einfach alles über mich ergehen lasse."

DAS ist KEIN Vertrauen!

Das anerzogene Verhalten, alles über sich ergehen zu lassen, hat seinen Ursprung in Angst - nicht in Vertrauen.

Ich ziehe da gerne den Vergleich zu uns Menschen und einem Bankräuber: Wenn ein Mann mit einer Waffe vor uns steht, fangen wir aus Angst an zu schreien. Dem Bankräuber gefällt das nicht und er hält uns die Waffe an den Kopf. Wir hören auf zu schreien.

Aber wir hören nicht deshalb auf zu schreien, weil wir die Waffe am Kopf so angenehm kuschelig finden, sondern weil wir Angst um unser Leben haben. Der Bankräuber hat aber sein Ziel erreicht: Wir sind still.

Dasselbe passiert bei zwangsgezähmten Ratten: Sie tun, was wir von ihnen verlangen. Aber nicht, weil sie es toll finden oder gerne für uns machen, sondern weil sie Angst vor uns haben.

Ratten sind hochintelligent. Sie wissen sehr genau, dass wir Menschen viel größer und stärker sind als sie. Daher wissen sie auch, wenn wir sie gegen ihren Willen festhalten, dass wir eine ernstzunehmende Bedrohung darstellen. Manche Ratten quittieren das mit Bissen - was ich vollkommen verstehen kann.

Andere fügen sich wirklich einfach in ihr Schicksal.

Zeit lassen

Vertrauen aufbauen geht aber anders. Lasst immer das Tier bestimmen, wie schnell der Vertrauensaufbau voran schreiten soll.

Wenn es nach einer Woche nicht geklappt hat, klappt es vielleicht nach 4 Monaten. Wenn es nach 4 Monaten nicht geklappt hat, klappt es vielleicht nach 8 Monaten.

Mein Karl ließ sich nicht anfassen, als er zu mir kam. Inzwischen ist weit über ein Jahr vergangen und Ende 2012 kam er von sich aus im Auslauf an, kuschelte sich an mich und ließ sich ohne Quieken, ohne Rumzappeln hochheben und wieder absetzen. Nach über einem Jahr vertraute er mir plötzlich. Sicherlich nicht, weil ich ihn dazu gezwungen habe!

Sondern, weil er im Laufe der Monate gelernt hat, dass ich ungefährlich für ihn bin. Dass von mir keine Gefahr ausgeht und dass es sich lohnt, mir zu vertrauen. Dass Hochheben nicht bedeutet, dass ich ihn auffresse, sondern dass am Ende davon entweder der stundenlange Auslauf steht oder was Leckeres zu essen.

Mit Geduld und Leckerlis kann man eine Ratte auch zähmen bzw. ihr Vertrauen gewinnen. Und wenn die Ratte einem dann vertraut, tut sie es, weil sie einen gern hat und nicht, weil sie Angst vor einem hat.

Gefahr durch Zwangszähmung

Darüber hinaus kann man mit der Zwangszähmung viel falsch machen. Lange nicht jede Ratte fügt sich beim Zwangszähmen in ihr Schicksal. Wie oben bereits erwähnt, machen manche Gebrauch von ihrer gefährlichsten Waffe - ihren Zähnen.

Bei anderen verstärkt sich die Angst durch den Zwang so dermaßen, dass selbst das anfängliche Leckerlis aus der Hand nehmen nicht mehr möglich ist oder dass die Ratte in Panik in einem Haus verschwindet, sobald ein Mensch den Raum betritt. Das heißt, man kann den Stress, den eine Ratte durch diese Angst hat, noch um das Doppelte vergrößern, wenn man mit Zwang arbeitet.

Wie eine ängstliche Ratte unter Zwang reagiert, sieht man ihr vorher nicht an. Hat man aber das bisherige Grundvertrauen einmal zerstört, ist es oftmals völlig unmöglich, es wieder aufzubauen.

Und was ist mit dem Stress?

Ratten sind extrem anpassungsfähige Tiere. Den Dauerstress, den Zwangszähmer als Grund vorschieben, haben Ratten nicht für den Rest ihres Lebens. Sie merken schon sehr bald, dass der Mensch - so aus der Ferne betrachtet - gar nicht so übel ist. Bringt der Mensch dann auch noch regelmäßig Leckereien mit, ist selbst für die ängstlichste Ratte schon bald klar, dass so ein eigener Mensch auch Vorteile hat und dass man sich nicht jedes Mal ins Fell machen muss, wenn er sich neben dem Käfig bewegt.

Bei extrem scheuen Ratten kann man zunächst auch mit indirektem Kontakt arbeiten. Das bedeutet, Leckerlis auf einem langstieligen Löffel anbieten - auch ins Häuschen hinein - und ruhig mit dem Tier sprechen.

Fou

Dass selbst die allerscheusten Tiere auch nach langer Zeit von sich aus noch zahm werden können, habe ich an meinem Farbmauskastraten Fou erlebt.

Er kam im Frühling 2011 zu mir. Seine Mutter - eine Fundmaus - stammte aus dem Tierheim, sein Vater war eine Wildmaus. Demnach war Fou also zu 50 % Wildmaus, ein Spunk, wie wir unter Farbmaushaltern zu sagen pflegen.

Spunks haben die Eigenschaft, beinah unsichtbar zu sein, denn sie bewegen sich so schnell, wie ein Eichhörnchen auf Red Bull. Sie springen meterweit und meterhoch aus dem Stand und man kann sie folgendermaßen in der Regel nicht anfassen.

Das Saubermachen meines Farbmausgeheges wurde jedes Mal zu einem erneuten Abenteuer, denn Fou scheute auch nicht davor zurück, einfach aus dem Käfig an mir vorbei in die vermeintliche Freiheit zu springen.

Davon abgesehen jedoch, ließ ich ihn vollständig in Ruhe. Ich unternahm absolut keine Annährungsversuche oder dergleichen. Denn für mich war klar, dass er niemals eine zahme Maus sein würde und das war für mich vollkommen in Ordnung.

Doch im Herbst 2012 fing Fou an, sich meiner Hand im Käfig immer wieder ein wenig zu nähern. Zunächst immer fluchtbereit, irgendwann jedoch mit einiger Gelassenheit. Nach einigen Tagen nahm er dann Zucchinikerne aus der Hand. Einige Tage später schleckte er mir Nutri vom Finger. Und wenige Wochen darauf kletterte er eines Abends ganz ruhig und entspannt auf meine dargebotene Hand.

Ohne Zwang, ohne Bestechung, ohne dass ich irgendetwas dafür getan hätte. ER war soweit, mir zu vertrauen. Von ganz allein!

Dass ich vor Tränen der Rührung kaum die Kamera stillhalten konnte, um diesen Moment zu verewigen, versteht sich vermutlich von selbst.

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Es war in 9 Jahren Farbmaushaltung der mit Abstand schönste Augenblick. Weil ich wusste, dass Fou mir um meiner selbst Willen vertraut. Weil er mich mag. Und es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als so ein Vertrauensbeweis.

Daher heißt das einzig wahre Patentrezept für die Zähmung: Geduld und keine Erwartungshaltung.

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